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Die Eichen hatten dem Ort den Namen Oakhill gegeben. Von der Villa ragten nur einige Ecken zwischen den Wipfeln hervor. Aus der Winterzeit wusste Kjell, dass das Gebäude auf einem felsigen Hügel stand. In Form und Farbe glich es einer Sandburg. Er versuchte, sich zu erinnern, wann die Botschaft in die Villa eingezogen war, aber es konnte nicht lange nach der Erbauung vor einem Jahrhundert gewesen sein.
Sie näherten sich dem Ende vom Djurgårdsvägen. Die Straße wand sich wie die Schlinge eines Schiffanlegetaus um das runde Gelände der Botschaft, so dass man wieder zurück zur Stadt fahren konnte, ohne wenden zu müssen. Der Garten war riesig, bestand aber vor allem aus Felsengrund, der von der Straße steil zum Haus hin anstieg.
Sogar die Fahrbahn war zugeparkt, beginnend mit einer Kolonne aus sieben Streifenwagen. Um die Einfahrt standen ein gutes Dutzend schwarzer Limousinen, unter denen Pers weißer Transit wie ein schwarzes Schaf herausragte.
„Es sind gar keine Ambulanzfahrzeuge da“, wunderte sich Sofi.
Wegen der Hubschrauber hatten sie Verletzte erwartet, und auch Panik und Durcheinander. Mehr als eine Schar uniformierter Polizisten war jedoch nicht zu sehen.
Sie mussten den Wagen mitten auf der Straße abstellen und legten die letzten Meter zu Fuß zurück. Im ersten Moment konnte Kjell gar nicht sagen, was für Menschen sich hier versammelt hatten, denn die Uniformierten machten nur einen kleinen Teil von ihnen aus. Er entdeckte Lindegren vom Einsatzkommando. Er schien in mehrere Gespräche zugleich verwickelt zu sein. Bei den meisten Personen musste es sich um Gäste des Sommerfests handeln, auch wenn niemand von ihnen festlich gekleidet war. Kjell legte Lindegren die Hand auf die Schulter, worauf sich der Kommandant umwandte. Sein besorgtes Gesicht heiterte sich sogleich auf. Er löste sich von der Gruppe und folgte Kjell und Sofi einige Schritte an den Rand des Geschehens. Sofi zog ihren Notizblock hervor.
„Das da sind die verbliebenen Diplomaten vom Fest“, sagte Lindegren. „Einige sind noch in der Botschaft, andere schon abgefahren. Bisher wissen wir nur, dass während des Fests auf einmal ein Trupp von Männern an der Einfahrt auftauchte. Die Schätzungen liegen zwischen zehn und zwanzig Mann. Alle waren in weiße Tücher gehüllt.“
Damit hatten sie sofort die Aufmerksamkeit aller Gäste auf sich gezogen. Die Gewänder glichen römischen Togen, und auch die übrige Erscheinung der Männer ließ sie wie eine Gruppe römischer Senatoren aussehen.
„So gut wie alle haben den Auftritt für eine Inszenierung mit engagierten Schauspielern gehalten, erst recht, als der Anführer etwas in einer Sprache zu rezitieren begann, die keiner verstand. Einige hielten es für Latein, aber es sind einige unter den Botschaftern, die sehr gut Latein sprechen, und die behaupten, dass sie kein Wort verstanden haben.“
Lindegren machte eine Pause, bis Sofi von ihrem Schreibblock aufsah.
„Und dann?“
„Der Anführer hielt einen Speer in der Hand.“
„Einen Speer?“, fragte Sofi.
Kjell vermochte nicht zu sagen, ob Sofi der Speer selbst überraschte oder ob sie unsicher war, ob sie Lindegren richtig verstanden hatte. Sein Schonisch war kaum zu verstehen.
„Einen Speer, ja. Er ist noch hier. Steckt im Rasen. Das war nämlich das Ende des Besuchs. Der Botschafter stand bei den Zuschauern, die sich im Laufe des Auftritts hier auf dem Rasen zwischen Einfahrt und Haus versammelten. Am Ende des Gebrabbels hat der Mann den Speer in die Höh gerissen und ihn auf den Botschafter geschleudert. Maero musste einige Schritte zurückweichen. Erst da ging den Leuten auf, dass das alles kein inszenierter Scherz war. Der Botschafter soll ganz schön schockiert gewesen sein. Von da an hielten die meisten Gäste die Männer für militante Demonstranten.“
„Und die Männer?“, fragte Kjell.
„Die haben sich zurückgezogen. Über die Straße und dann in die Büsche. Da vorne beim Bellman-Denkmal. Ich habe zwei Trupps in den Wald geschickt. Bisher ohne Erfolg. Auch die Hubschrauber haben bisher nichts gefunden.“
„Steckt der Speer noch im Rasen?“, fragte Sofi.
Lindegren nickte. „Er steckt auf italienischem Territorium, deshalb konnten wir ihn nicht holen.“
„Es ist ganz und gar schwedisches Territorium", erklärte Sofi dem Kommandoführer. „Das Wiener Abkommen schützt nur die Kanzlei und die Residenz.“
„Also dürfen wir in den Garten?“
Sofi schüttelte zaghaft den Kopf. „Ich glaube nicht. Das umgebende Land gehört nach dem Wiener Übereinkommen zur Botschaftseinrichtung. Aber der Grund ist ganz und gar schwedischer Grund.“
Lindegren verschränkte vor Ungeduld die Arme vor der Brust. „Vom Wiener Abkommen weiß ich nur, dass ich den Auftrag habe, die Botschaft zu schützen, ohne sie zu betreten. Der Rest ist eure Sache.“
„Es ist eine Frage der Höflichkeit und nicht des Rechts“, kommentierte Kjell. „Wo ist der Botschafter jetzt?“
„Streunt auf dem Gelände herum. Einige Diplomaten sind herausgekommen und haben angeboten, eine Aussage zu machen.“
„Aus eigenem Antrieb?“, fragte Sofi.
„Ja. Es sind die Botschafter von England und Deutschland und die Protokollchefin aus Frankreich. Der Engländer und der Deutsche wollen hierbleiben, um zu erfahren, wie ihre Wette ausgeht. Bei den Gästen, die sich noch im Garten aufhalten, weiß ich es nicht, aber alle sind sehr kooperativ.“
„Also habt ihr keinen Druck ausgeübt?“, versicherte sich Sofi. „Wenn es Diplomaten sind, muss niemand eine Aussage machen.“
„Idioten sind wir ja nun auch nicht.“
Lindegren wollte wieder zu seinen Männern zurück, um die Suchaktion im Wald voranzutreiben.
„Ich gehe mal den Botschafter suchen“, sagte Kjell. Er stellte sich mitten in die Ansammlung vor der Einfahrt und ergriff das Wort. Wer etwas aussagen wolle, solle sich an seine Kollegin wenden. Sogleich bildete sich ein Kreis um Sofi. Kjell stellte sich auf die Schwelle der Einfahrt und sah tatsächlich den Speer im Rasen stecken.
„Entschuldigung!“, rief er in die Menge. „Haben die Männer hier gestanden, wo ich jetzt stehe?“
Er erhielt einmütiges Kopfnicken zur Antwort.
„Keiner von ihnen hat das Gelände betreten, ja?“
Es wurde erneut genickt.
Kjell wandte sich noch einmal dem Garten zu. Sehr erstaunlich. Die Distanz von hier bis zur Einschlagstelle des Speers betrug auf jeden Fall dreißig Meter. Der Speer machte einen sehr stabilen Eindruck, und offenbar hatte der Werfer genau den Punkt getroffen, wo der Botschafter zum Zeitpunkt des Wurfes gestanden hatte.
Er gesellte sich zur Gruppe und erkundigte sich, ob der Mann Anlauf genommen hatte.
Ein Mann mit englischem Akzent war deutlich beeindruckt von dieser sportlichen Leistung. Tatsächlich hatte der beared olde man einfach nur den Arm gehoben und ordentlich durchgezogen. Der Speer war über die gesamte Distanz extraordinary waagerecht durch die Luft geschossen. Dass er zudem direkt vor Mister Maeros Füße auftraf, hielt der britische Botschafter für sensationell.
„Beared?“, fragte Sofi und tippte sich ans Kinn. „Ein Bart?“
Viele nicken.
„Am besten holst du die Mappe mit den Bildern aus dem Wagen“, flüsterte Kjell.
Sofi lief gleich los. In diesem Moment schlenderten fünf Personen über den Rasen der Botschaft auf die Einfahrt zu. Offenbar handelte es sich bei ihnen auch um diplomatische Gäste. Sie zogen grüßend an der Ansammlung vorbei und steuerten auf die Limousinen zu. Nur ein Mann und eine etwa dreißigjährige Frau blieben unschlüssig in der Einfahrt stehen. Kjell sah dem Mann und seinem wunderbaren blauen Anzug an, dass er der chief of the mission war. Die Frau war auf jeden Fall auch Italienerin und stand wie seine rechte Hand an seiner Seite.
„Botschafter Maero?“
Der Mann kam näher und die Frau mit ihm. Er nickte.
Kjell stellte sich vor und drückte sein Bedauern aus. „Warum haben Sie keinen Polizeischutz bestellt?“
Die Antwort kam von der Frau. „Das ist ja normalerweise nicht notwendig. In zwanzig Jahren hatten wir noch keinen Zwischenfall. Es gibt eigene Wachleute in der Botschaft.“
„Das ist Lorenza Ferrante, die Protokollchefin“, stellte Maero seine Begleiterin vor und zeigte auf die Straße. „Hier war ja auch alles vollgeparkt. Die Gäste hatten eigene Fahrer und Sicherheitsleute, die während des Festes hier draußen bei den Fahrzeugen warteten.“
Allerdings hatte niemand den heranmarschierenden Trupp von togatragenden Männern als Bedrohung eingeschätzt, ergänzte Sofi aus ihren Notizen. Sie stellte sich vor und gab Maero und der Frau die Hand.
„Können wir unseren Techniker zu dem Speer schicken?“, fragte Kjell.
„Natürlich. Sie können auch hereinkommen. Hinten sitzen noch einige Gäste, die gerne behilflich sein wollen. Gehen Sie nur.“
Während Sofi zu Per lief, betrat Kjell mit dem Botschafter und seiner Protokollchefin den Garten. Die Tische und das Büffet waren an der Westseite des Gebäudes aufgestellt, wo die Sonne am längsten schien. Der Rasen war wegen des felsigen Untergrunds nicht im besten Zustand, aber an der Innenseite der Grundstücksmauer zog sich ein Streifen aus üppig blühenden Rosen entlang. Kjell erfuhr, dass etwa zweihundert Gäste der Einladung gefolgt waren. Diese Menge umfasste beinahe das gesamte diplomatische Korps in Stockholm sowie eine Reihe von schwedischen Diplomaten aus dem Außenministerium und auch einige einheimische Politiker. Die Politiker und die schwedischen Diplomaten würden sich nicht um eine Aussage drücken können, aber im Augenblick konnte Kjell nur an den Speerwerfer mit dem Bart denken. Charun war wieder in Erscheinung getreten. Diese Gleichung ließ sich nicht aus seinen Gedanken verdrängen. Er war wieder in Erscheinung getreten. Aber was hat der mit der Botschaft zu tun, fragte er sich. Doch die Antwort war offensichtlich. Kjell griff in die Innentasche seiner Jacke. Er faltete das Papier auf.
„Kennen sie diese Person? Wir glauben, dass sie in einem Zusammenhang mit der Botschaft stehen könnte.“
Die Reaktion der beiden fiel ganz und gar entgegengesetzt aus. Das Gesicht von Lorenza Ferrante veränderte sich überhaupt nicht. Massimo Maeros Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er verharrte in seiner Mimik, bis er nach einigen Augenblicken den Kopf hob. Erst jetzt bemerkte er, dass Kjell seine Reaktion genau verfolgt hatte. Dann nickte er wieder und starrte auf das Bild mit der Computerrekonstruktion der Frau vom Sveavägen.
Der Botschafter nickte steif. „Das ist Fabia Terni.“